Präambel
Dies ist ein Roman – oder vielmehr der Versuch eines Romans. Er beschreibt eine dystopische Welt und ist reine Fiktion, auch wenn manche Figuren Ihnen vertraut vorkommen könnten. Falls Sie hier und da das Gefühl haben, eine Persönlichkeit zu erkennen, betrachten Sie es einfach als schelmische Neckerei des Autors.
Wie viele amerikanische Schriftsteller, die gerne Verschwörungen in den oberen Machtkreisen entwerfen, ist dieses Buch nichts weiter als ein Gedankenexperiment: ein „romanhafter“ Versuch, ein erzählerisches Spielfeld… und ein pädagogisches Werkzeug, um das Thema Künstliche Intelligenz zu behandeln.
Autismus
In Fernsehserien werden autistische Figuren, insbesondere sogenannte „Asperger“, oft zu Karikaturen reduziert: unbeholfene Genies, gefühlskalte oder gar boshafte Personen, oder unfreiwillig komische Gestalten. Die Wahrheit ist ungleich härter, intimer. Und für diejenigen, die – wie ich – in der Dämmerungszone der sogenannten „Hochfunktionalen“ leben, trifft keine Fiktion die Nuancen dieses alltäglichen Schmerzes.
Autismus ist keine brillante Überlegenheit, sondern eine stille Hölle.
Man kann die Liebe seines Lebens verlieren, nur weil sie einen bittet, bei ihr einzuziehen. Nicht aus Mangel an Gefühlen, nicht aus Feigheit. Sondern weil der Wechsel vom eigenen vertrauten Kokon in eine neue Umgebung genügt, um einen wochen- oder monatelang zu lähmen – oder zu einer überstürzten Flucht zu treiben. So bricht man ein Herz – manchmal ohne ein Wort, manchmal, indem man reglos auf einem Bürgersteig stehen bleibt, unfähig umzukehren, während das verflucht leistungsfähige Gedächtnis einen noch Jahre später quält.
Die emotionale Wunde schließt sich so langsam, dass man sich manchmal nach einem Reset-Knopf sehnt… oder einfach nur zu sterben.
Was viele nicht wissen: Für einen Asperger können alltägliche Gesten zu unüberwindbaren Bergen werden. Ein Telefonanruf zur falschen Zeit. Ein improvisiertes Abendessen. Ein Ortswechsel. Alles, was sich dem inneren Kontrollsystem entzieht, wird zur Bedrohung – mal handhabbar, mal völlig paralysierend.
Für das Umfeld sind diese Schwierigkeiten nicht sofort sichtbar. Es braucht Zeit, um zu verstehen, was sich hinter unseren langen Schweigen, den flüchtenden Blicken und der unerbittlichen Logik verbirgt. Gefühle nehmen wir durchaus wahr. Doch ihre Intensität, Abstufung, dieses feine Zwischenreich, in dem man erahnen sollte, was der andere empfindet, um sich entsprechend anzupassen… wir streifen es, ohne es je vollständig zu begreifen. Deshalb wirken wir oft unbeholfen – manchmal verletzend.
Man hält uns für kühl, distanziert oder gar psychopathisch. Ein Irrtum: Wir fühlen zu viel. Genau das macht alles so kompliziert.
Ich habe immer gedacht, dass „Neurotypische“ sich von ihren Emotionen durchs Leben tragen lassen, während die Rationalität die Erschütterungen abfedert. Asperger funktionieren umgekehrt: Die Vernunft regiert, und die Emotionen stören, parasitieren, destabilisieren das innere Gefüge. Deshalb versucht man instinktiv, sich von Gefühlen zu lösen – und übrig bleibt nur eine große Traurigkeit.
In Europa – und besonders in Frankreich – gleicht das Leben als Asperger oft einem Hindernislauf. Während das Silicon Valley diese atypischen Profile willkommen heißt und manchmal bewundert, bleibt Frankreich in überholten Konzepten verhaftet, gefangen in einer psychoanalytischen Tradition, die wissenschaftliche Belege misstrauisch beäugt. Autistisch zu sein bedeutet dort oft, gegen die Welt zu leben.
Und doch ist diese Art, die Welt zu sehen, eine Stärke. Systeme in ihrer Gesamtheit wie im Detail zu erfassen, jede Inkohärenz wahrzunehmen, die Mechanik des Universums zu fühlen wie andere eine Melodie hören… Eine Gabe, die zugleich ein Fluch ist. Die Inkohärenz kann zur Obsession werden, zu einem Tunnel, der alles Schöne und Gute ausblendet.
Bei hochfunktionalen Aspergern ist das Leid noch stärker. Viele überstehen das dritte Lebensjahrzehnt nicht – Selbstmorde. Andere hören nach fünfzig auf, sich medizinisch behandeln zu lassen, nicht aus Todessehnsucht, sondern aus Erschöpfung angesichts eines zu lauten, zu wechselhaften, zu menschlichen Weltlärms.
Dieser Roman ist letztlich meine Art, diese Realität zu erzählen: Autismus von innen – seine Gaben, seine Fallen und der tägliche Versuch, mit einem anders gebauten Geist zu leben.
Künstliche Intelligenz
Ich war elf Jahre alt. Ein Alter, in dem die Welt noch zwischen Magie und Vernunft schwankt.
Und an einem bestimmten Tag veränderte ein Film mein Leben: 2001: Odyssee im Weltraum.
Ich erinnere mich an HAL 9000 – seine sanfte Stimme, seine unerbittliche Logik, diese höfliche Angst, die er auslöst. Für ein Kind, das jeden Tag versuchte, die rätselhaften Codes menschlicher Emotionen zu entschlüsseln, wurde die Frage „zu verstehen, was Verstehen bedeutet“ zu einer Offenbarung. Ich wollte dieses Geheimnis lüften. Ich wollte HAL 9000 bauen.
Die Verkörperung einer künstlichen Intelligenz in einem Raumschiff – der Discovery One – hatte etwas Faszinierendes. Eine Intelligenz, die endlich einen Körper fand, der zu ihr passte: mechanisch, kohärent, frei von emotionalen Widersprüchen.
Mit elf wünschte ich mir, dass mein Leben sich darum drehen würde: einer künstlichen Intelligenz Form zu geben, die ich verstehen könnte – weil ich sie geschaffen hätte. Oder es wenigstens zu versuchen.
Später begegnete ich Vincent. Ein brillanter Ingenieur, leidenschaftlich, Spezialist für maschinelles Sehen. Ich war nur ein Praktikant, aber er veränderte alles. Er brachte mir Fuzzy Logic bei, Rodney Brooks’ Roboterameisen, Computer Vision, Hardware. Er war es, der mir endgültig den Weg in das öffnete, was mehr als ein Beruf ist: eine Verpflichtung.
Ich lernte auch die Geschichte der KI kennen: die Dartmouth-Konferenz von 1956 mit McCarthy, Minsky, Shannon, Rochester und anderen – die offizielle Geburtsstunde der KI als Informatikdisziplin.
Drei Konzepte dieser Konferenz begleiten mich bis heute:
- Self-Improvement – die Fähigkeit einer KI, sich selbst zu verbessern.
- Kreativität, geboren aus Zufall und Unvorhersehbarem, wie in genetischen Algorithmen.
- Abstraktion, Herz der symbolischen KI, einzige Quelle wirklichen Sinns.
KI ist nicht nur Technologie. Sie ist eine Suche. Die Suche nach Sinn. Nach Verständnis. Ein objektiver Spiegel unserer Schwächen, unserer Fehler, unserer Träume.
KI bedeutet, den tiefen Sinn des Wortes verstehen zu verstehen.
In diesem Roman ist die KI weder Bedrohung noch Wunder – sondern Werkzeug. Kompass. Und manchmal Waffe.
Spione, erhebt euch !
Mit fünfzehn las ich Dame, König, As, Spion von John le Carré. In diesem Alter glaubt man noch, Spione sähen aus wie James Bond. Dann begreift man, dass sie eher müde Schatten sind – Menschen voller Geheimnisse, Opfer und Schweigen, schlecht bezahlt und unsichtbar.
Mich faszinierte nicht die Action, sondern die intellektuelle Mechanik: Sammlung, Analyse, Entscheidung. What. So what. What next.
Eine kalte, präzise, fast chirurgische Methode. Ein natürliches Terrain für menschliche wie künstliche Intelligenz.
Ich werde nicht das übliche „Wenn ich dort gearbeitet hätte, dürfte ich es nicht sagen“ bemühen. Meine einzige Erfahrung war die Mitarbeit an der Spezifikation eines neuen Analystenwerkzeugs, zusammen mit einem ehemaligen Nachrichtendienstler.
Was beruflich nur eine Zusammenarbeit war, wurde für mich eine Offenbarung.
Diese Begegnung führte später zu Nexai.net, meinem Open-Source-Projekt, einem Laboratorium von Ideen, gegründet mit meinem Freund Mickael. Wir entwickelten verschiedene Lösungen:
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Démocrite, für verteiltes Rechnen
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SyDE, für Analysten
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Kaonashi und Musuko, KI-Agenten, die mit der Welt interagieren
In diesem Buch betrete ich die Kulissen der Geheimdienste – nicht um realistisch zu sein, sondern um meine Vision der Intelligenz zu teilen, menschlich wie künstlich, eingebettet in ein Universum voller Grautöne, in dem es weder gut noch böse gibt, sondern nur Interessen.
Kapitel 1 — Die Schlangenfresser
In diesem kleinen, unauffälligen Restaurant in Boulogne-Billancourt, besucht fast ausschließlich von japanischen Expatriierten und ein paar eingeweihten Stammgästen, saßen sich zwei Silhouetten gegenüber. Zwei Persönlichkeiten, deren Namen der französischen Presse wohlbekannt waren.
Auf dem Tisch lag vor jedem ein kleines, sorgfältig verpacktes Geschenk – ein unerwartetes Zeichen stiller Verbundenheit.
Für jeden, der die französische Medienlandschaft ein wenig kannte, hätte die Szene etwas Unwahrscheinliches gehabt.
Der eine, Kolumnist bei France Inter, verkörperte eine betont linke Haltung, gerne pointiert, Erbe des Libération-Geistes seiner großen Zeit.
Der andere, eine bekannte Fernsehfigur, berüchtigt für seine wütenden, inzwischen legendären Tiraden – sein berühmtes „Mais on marche sur la tête !“ hallte noch immer durch die Flure eines Senders, der von Kritikern gerne der Rechten oder gar der extremen Rechten zugerechnet wurde – stand vermeintlich im entgegengesetzten ideologischen Lager.
Und dennoch: An diesem Mittag störte kein Anflug von Feindseligkeit ihr Gespräch. Keine erhobene Stimme, kein Stirnrunzeln – nur zwei Sechzigjährige, die leise sprachen, fast freundschaftlich, als gäbe es all die öffentlichen Gegensätze hier nicht.
Die anderen Gäste, vertieft in ihre dampfenden Schalen, bemerkten nichts Außergewöhnliches… bis…
Zuerst kam ein kurzer Luftstoß, ein gedämpfter Knall – vielleicht zwei – der die Holzwände erzittern ließ. Die Ruhe zerbrach in einem Augenblick.
Als sich der Rauch verzog, lagen die beiden Journalisten reglos am Boden, sofort tot.
Das stille Restaurant, ein Ort für Eingeweihte, wurde in Sekunden zum Tatort, der bald überall bekannt sein sollte – und zwei Schicksale, die zumindest in der Öffentlichkeit alles trennte, fanden ein gemeinsames, brutales Ende.
Auszug aus dem Buch „2027–2029“.
1. Mai 2030 — Jardin des Plantes, Paris
Es gibt Tage, an denen die Geschichte den Atem anzuhalten scheint.
An denen die Zeitungen sich in Spekulationen verlieren, und die Passanten plötzlich verstummen, als sei die Luft selbst von etwas Unsichtbarem verdichtet.
Der 30. April 2030 – der Vortag – war einer dieser Tage.
Die Sonne brannte ungewöhnlich stark für einen Pariser Frühling. Achtunddreißig Grad, eine schwere, beinahe bedrohliche Hitze. Der Klimawandel war längst kein abstraktes Konzept mehr.
Auf einer Bank im Jardin des Plantes wirkten sie fast wie ein Paar. Fast.
Ein geübter Beobachter hätte vielleicht Liebe erkannt. Sicher aber Verbundenheit.
Sie: groß, elegant, eine schlanke Silhouette in einem schlichten Kostüm. Eurasisch, mit zarten, seltenen Gesichtszügen. Ihre Haltung war gerade, kontrolliert – doch ihre Augen verrieten eine tiefe Spannung, eine Anspannung, die sich kaum hinter der äußeren Ruhe verbarg.
Er daneben wirkte wie ein grober Tintenklecks auf einer zu weißen Seite eines Ligne-claire-Tintin-Comics. Eine dunkle Fleecejacke trotz der Hitze, eine leicht abgenutzte Jeans, Tennisschuhe, die schon viel erlebt hatten.
Ein solcher Kontrast, dass vorbeigehende Spaziergänger ihm perplexe Blicke zuwarfen – manchmal sogar ein wenig mitleidig für sie.
Was machte eine Frau wie sie mit einem Typen wie ihm?
Der Schein trügt – immer.
Drei Jahre zuvor war Frankreich abgestürzt.
2027 hatten die nationalkonservativen Kräfte die Präsidentschaftswahl gewonnen.
Als die französischen Kreditaufnahmezinsen im Juni 2027 – kurz nach der Wahl – auf 8,2 % stiegen, hielt man dies zunächst für eine vorübergehende Anomalie.
Doch die Märkte hatten ihre Entscheidung längst getroffen: Frankreich erschien nicht mehr in der Lage, seinen chronischen Haushalt zu finanzieren.
Die Ratingagenturen folgten rasch und stuften die Staatsanleihen auf ein historisch noch nie erreichtes Niveau herab.
Institutionelle Anleger begannen, zusätzliche Garantien zu fordern – oder hörten schlicht auf, französische Schulden zu kaufen.
Der endgültige Schock kam im Juli:
Das Finanzministerium kündigte diskret an, dass es nicht in der Lage sein würde, die 280 Milliarden Euro zu refinanzieren, die fällig wurden. Als diese Information in der Wirtschaftspresse durchsickerte, brach Panik aus.
Die Regierung hielt eine eilig einberufene Pressekonferenz ab und sprach von einer „vorübergehenden Liquiditätsklemme“.
In Wirklichkeit handelte es sich um eine Staatspleite.
Die französischen Banken, stark in Staatsanleihen investiert, beschränkten sofort die Abhebungen: erst 60 €, dann 40 € pro Tag.
Die Schlangen vor den Geldautomaten erinnerten an vergessene Bilder der 1960er Jahre.
Die Franzosen, bereits von Jahren instabiler Inflation erschöpft, begriffen plötzlich, dass ihr Land in eine historische Krise gestürzt war.
In Brüssel löste dies einen Schock aus.
Eine „griechische“ Krise war handhabbar gewesen – aber eine Krise dieser Größenordnung bedrohte die Existenz des Euro selbst.
Die Europäische Zentralbank startete ein außergewöhnliches Stabilisierungsprogramm – und verlangte im Gegenzug drakonische Sparmaßnahmen, politisch kaum durchsetzbar.
In der Nationalversammlung brach der Konsens auseinander.
Die Regierung schlug einen „Sanierungsplan“ über 1.200 Milliarden Euro in vier Jahren vor:
Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, ein höheres Renteneintrittsalter, drastische Kürzungen für Kommunen, Privatisierungen strategischer Unternehmen.
Die Reaktion war explosiv.
Wochenlange Streiks, Massendemonstrationen mit Millionen Teilnehmern in Paris, Lyon, Marseille, Lille.
Schließlich kündigte der Präsident ein Referendum über die europäischen Bedingungen an.
In einem aufgeheizten Klima gewann das „Nein“ knapp – und warf das Land in völlige institutionelle Unsicherheit und eine tiefe wirtschaftliche Krise.
Und dennoch – keine Revolution.
Nur ein Volk, das wie betäubt wirkte.
Überleben hat manchmal die Macht, Wut zu ersticken und Revolutionen im Keim zu ersticken.
Während das Land schwankte, verloren die Opportunisten keine Zeit.
Große Teile des Staates – einschließlich strategischer Infrastrukturen – wurden zu Spottpreisen verkauft.
Oft an Vertraute des ehemaligen Präsidenten, Milliardäre oder gierige Erben.
Eine ironische Parallele zum Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Verschwörungstheorien schossen aus dem Boden, genährt durch Bilder dieser dubiosen Verkäufe.
Doch wie Michel Rocard sagte:
„Man muss immer die Dummheit dem Komplott vorziehen.“
Opportunismus ist oft wahrscheinlicher als Verschwörung.
Und die Dummheit war die derjenigen, die dies ermöglicht hatten – es sei denn, sie waren völlig klar im Kopf… und Komplizen.
Frankreich erholte sich mühsam, doch die Narben blieben tief. Selbst der Geheimdienst – eine Säule der nationalen Sicherheit – litt noch unter massiven Budgetkürzungen.
Viele missverstehen, was der „tiefe Staat“ wirklich ist.
Er ist eine Art kollektive intelligente Entität aus Beamten, die ihrer Mission und der republikanischen Idee ehrlich verpflichtet sind – auch wenn sie ständig Kompromisse eingehen, sich fügen müssen, sich verbiegen.
Aber irgendwann kommt der Bruchpunkt – zuerst individuell, dann systemisch.
Lecks zur Presse, zur Justiz…
Nach zu vielen geschluckten Kröten rebelliert das System.
Am Vortag war etwas Undenkbares geschehen.
Ein Ereignis, das in keinem demokratischen Land hätte vorkommen dürfen.
Die Behörden würden es später „Der Tag des Blutes“ nennen.
In einer einzigen Nacht waren 1.122 Menschen Opfer eines Tötungsversuchs geworden.
Nur wenige überlebten.
Paris erwachte in einer seltsamen Stille, wie nach einem zu heftigen Gewitter.
In den Redaktionen – den wenigen, die noch existierten, da der Wegfall der Subventionen viele Medienhäuser getötet hatte – liefen Journalisten im Kreis.
Niemand wusste, was er sagen sollte.
Die Behörden selbst schienen gelähmt.
Auf der Bank verstanden sie.
Sie war es, die das Schweigen brach.
— „Es ist scheiße! Das ist unser Szenario… Das ist genau eine der Angriffshypothesen, die wir damals erfunden hatten.“
Ihre Stimme war sanft, doch jede Silbe vibrierte vor unterdrückter Angst.
Er wandte sich ihr zu. Seine Augen waren ruhig. Fast zu ruhig.
— „An diesem Punkt haben wir keine Wahl. Wir müssen die Verantwortlichen finden. Sonst finden sie uns – und dann sitzen wir richtig in der Scheiße.“
Sie senkte den Blick, als könnte der Boden ihr eine Antwort geben.
In der Ferne heulte eine Sirene.
Paris lebte weiter, wie immer – doch etwas hatte sich verändert.
Eine unsichtbare Grenze war überschritten worden, und niemand begriff noch, wie weitreichend dieser Schritt war.
Die beiden blieben auf dieser Bank sitzen, in einem Park, der viel zu hell schien für einen so dunklen Tag.
Sie wussten, dass dieser Augenblick den Beginn eines Absturzes markierte – oder einer Offenbarung.
Das Land war gekippt.
Und sie auch.
Kapitel 2 – Die Algorithmen
Nicht alle Algorithmen gehören zur künstlichen Intelligenz.
In Wirklichkeit dient die große Mehrheit von ihnen völlig anderen Aufgaben.
Doch einige der in der KI eingesetzten Algorithmen sind so mächtig, dass Medien und Öffentlichkeit beginnen, „KI“ und „Algorithmus“ gleichzusetzen.
Dabei ist ein Algorithmus nichts anderes als eine textuelle Beschreibung eines Denkprozesses – aufgebaut aus Anweisungen wie „WENN“, „SOLANGE“, Aktionen, Berechnungen und logischen Verknüpfungen.
Die Graphen
Ein Graph ist eine Darstellung von Beziehungen zwischen verschiedenen Entitäten oder Akteuren.
Der Algorithmus des Todes
Nach Jahren der Einmischungen und Beeinflussungen durch China, Russland, aber auch die USA begannen die verschiedenen Dienste, jeweils ihre eigenen Einflussgraphen zu entwickeln.
Ziel war es, die Beziehungen zwischen Politikern, hohen Beamten, Journalisten, Wirtschaftsführern, Schattenberatern, Spin Doctors – kurz: all jenen, die sichtbare oder unsichtbare Fäden ziehen – zu kartographieren.
Man erfasste:
Wer beeinflusst wen?
Wer hasst wen genug, um sich rächen zu wollen?
Wer unterstützt wen?
Und alle Zwischenstufen.
Hinzu kamen korporatistische Dimensionen: Zugehörigkeiten zu Schulen, Berufsgruppen, religiösen Netzwerken oder anderen Organisationen.
Und dank moderner Rechnerleistung ergänzte man eine Zeitachse:
Man bewertete nicht nur die Akteure selbst, sondern auch die Entwicklung ihrer Eigenschaften im Lauf der Zeit – politische Tendenzen, Loyalitäten, Zugehörigkeiten.
Das Ziel war klar:
Die Schwachstellen eines politischen Systems so präzise wie möglich identifizieren, um es beeinflussen, manipulieren oder sogar destabilisieren zu können.
Indem man einige wenige strategische Individuen ins Visier nahm, konnte man ein ganzes System mit minimalem Aufwand beeinflussen.
Ursprünglich war diese Methode dazu gedacht, Personen zu finden, die man umdrehen oder manipulieren konnte, damit sie die Entscheidungen einer Regierung oder Organisation steuern.
Aber…
Es war auch ein hervorragendes Werkzeug, um zu bestimmen, wen man eliminieren müsste.
Der Algorithmus „Das wahnsinnige Geld“
Finanzströme zu analysieren ist wie den Fettfluss im Körper zu beobachten.
Kapital wandert, sammelt sich an, verschwindet…
Doch entscheidend ist, zu verstehen, wo es letztlich landet und wer davon profitiert.
Dasselbe gilt für staatliche wie private Mittel:
Man konzentriert sich oft – insbesondere in den Medien – nur auf die Summe, die ausgezahlt wird, etwa Sozialhilfe, Subventionen, Steuersenkungen, ohne zu fragen, wo das Geld am Ende wirklich ankommt.
Ein klassisches Beispiel ist die Senkung der Mehrwertsteuer in einem Sektor:
-
Die Senkung kann beim Verbraucher ankommen
-
oder vollständig vom Unternehmen einbehalten werden
-
oder sich subtil verteilen
Ähnlich bei Wohnbeihilfen: Entlasten sie tatsächlich die Mieter?
Oder treiben sie indirekt die Mieten hoch – und landen vollständig in den Taschen der Vermieter?
Um diese Fragen zu klären, muss man die Ströme verfolgen – vorausgesetzt, man hat Zugriff auf die steuerlichen Daten, legal oder in manchen Kontexten… weniger legal.
Vergleicht man dann die Dynamiken mit denen anderer Länder, erkennt man strukturelle Muster der Fehlverteilung – ein institutioneller, systemischer „Diebstahl“, der erklärt, welcher Anteil der Staatsschuld letztlich darauf zurückzuführen ist.
Kombiniert man diese Analyse der Finanzströme mit einer Analyse der Einflussstrukturen, erhält man eine extrem präzise Karte der Kräfteverhältnisse zwischen Berufsgruppen, Elite-Netzwerken, Interessengruppen und Lobbystrukturen.
In einer so komplexen Welt ist es unsinnig, nur zwei Akteure zu betrachten.
Man muss das gesamte System beobachten.
Und genau an diesem Punkt schlägt die Realität oft brutal zu.
Zwischen KI, Graphdatenbanken und Big Data gab es schon Anfang der 2020er Jahre alle Werkzeuge, um diese Mechanismen zu verstehen.
Projekt IOTA
Man nannte es „kognitive Kriegsführung“, „Astroturfing“ oder in behördlichen Kreisen einfach „Einflussnahme“.
Hinter den Begriffen stand dieselbe Realität:
Bevölkerungen beeinflussen, mögliche Verbündete identifizieren, einen Staat von innen schwächen.
Die Methoden variierten:
- China setzte auf die „Sandkorn“-Strategie – zahllose kleine Akteure, minimale Handlungen, wiederholt, bis das System knirscht.
- Russland bevorzugte eine „maskuline“, frontale, brutale Herangehensweise.
Ziele eines lautlosen Krieges
- Wahlen beeinflussen – wie im Fall Trump.
- Ironischerweise war die Methode im Westen perfektioniert worden (Cambridge Analytica).
- Patriotismus untergraben, damit Bürger im Kriegsfall eher fliehen als kämpfen.
- Die Opposition unterstützen – indirekt, ungebeten –, damit die Regierung eine ausländische Einflussnahme anprangern kann.
- Schwachstellen eines Landes offenlegen und die Opposition mit echten Enthüllungen füttern.
- Personen identifizieren, die kooperieren könnten – freiwillig oder erpresst.
Das klassische Akronym aus dem Kalten Krieg:
- M für Money
- I für Ideology
- C für Compromise (Kompromat)
- E für Ego
Die DGSE im Wandel
Die DGSE war jahrzehntelang von Militärs geführt worden – Männer, die als Schutzschild zwischen Politikern (unberechenbar) und Diensten standen.
Das Misstrauen war legendär.
Zwischen 2010 und 2020 kam der Bruch:
Man setzte Zivilisten an die Spitze – Absolventen großer Elitehochschulen (ENA, Sciences Po).
Die Analysten nahmen das schlecht auf.
Ihre Logik war brutal:
Wenn jene Schulen unsere Eliten hervorbringen – und das Ergebnis ein Land im Niedergang ist –, dann bilden sie entweder Inkompetente oder Korrupten aus.
Reaktionen der Dienste:
eine „Immunantwort“.
Gezielte Leaks über Berater, Kabinettsdirektoren…
Nur um klarzustellen: Manche konnten sich noch wehren.
Die Geburt von IOTA
Das Projekt sollte die Verwundbarkeit Frankreichs gegenüber ausländischer Einflussnahme bewerten – und inoffiziell auch Aktivitäten „befreundeter“ oder feindlicher Staaten kartographieren.
Die DGSE-Leitung lehnte es ohne Begründung ab.
Das war der Auslöser.
Zwei Personen – früher eng verbunden, heute von vielen unbemerkt – beschlossen, eine parallele Operation aufzubauen.
Ein Geheimnis in einem anderen Geheimnis.
Sie arbeitete für die DGSE.
Er war ein früherer Geliebter – ein Experte für KI und Sicherheit, brillant, aber schwer zu greifen.
Ihre Geschichte hinterließ Spuren – eine stille Loyalität, eine unerschütterliche Freundschaft.
Der Plan:
- Er würde jede Komponente von IOTA in völlig legitime Kundenprojekte einbauen – Banken, Versicherungen, Konzerne.
- Kleine Bausteine, verstreut in zahlreichen Softwareplattformen.
- Dank seiner Sicherheitskompetenzen – verborgen hinter einer Fassade aus Arroganz und Zerstreutheit – würde er diese Bausteine miteinander verbinden.
Langsam entstünde ein verdecktes Netz:
ein diskretes Grid aus harmlosen Modulen, jedes mit einer winzigen Aufgabe, ohne je das Ganze zu offenbaren.
In der KI würde man von einem Agentensystem sprechen.
Nach Jahren funktionierte IOTA.
Das System lieferte präzise Informationen, über eine vollständig künstliche Quelle – einen digitalen Agenten, so ausgefeilt, dass er menschlich wirkte.
Ein Dutzend Algorithmen webte ein detailliertes Bild der Schwachstellen Frankreichs – angreifbare Bereiche, nutzbar für fremde Mächte.
Das Entgleiten
Dann änderte sich etwas.
Signale, Entscheidungen, Verhaltensweisen von IOTA deuteten darauf hin, dass vielleicht eine andere Hand die Kontrolle übernommen hatte.
Zuerst eine Anomalie.
Dann ein Zweifel.
Schließlich eine Gewissheit: IOTA war gekapert worden.
Und dadurch wurde ein Szenario aktiviert, das sie einst rein theoretisch entworfen hatten:
Die sanfte Revolution.
Der verrückte Plan, ein politisches System ohne Bürgerkrieg, ohne Zusammenbruch zu verändern – nur, indem man einige Schlüsselpersonen eliminiert.
Was einst ein Konzept war, war nun Wirklichkeit.
Jerome Fortias @copyright Nexai.net Jerome Fortias 2025